Band 094: Die gefährliche Zeugin verschwindet

Band 094: Die gefährliche Zeugin verschwindet
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ISBN:
Gebundenes Buch · 192 Seiten · 12.2 x 18.8 cm
cbj
Juli 2004
€ 7,50 [D] | € 7,80 [A] | CHF 13,90 (UVP)
978-3-570-15094-8
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Leseprobe

llustration von Seite 52/53.
llustration von Seite 52/53.

Das grauenvolle Erlebnis würde Gaby bis in ihre Träume verfolgen. Aber noch war es nicht so weit. Weitere vier Minuten blieben ihr zum Einkauf im Schnäppchen-Super-markt BBP, der heute allerdings schon um 13 Uhr schloss. Für zwei Tage. Wegen dringender Umbauarbeiten - wie auf Plakaten für ,die verehrten Kunden' mitgeteilt wurde. BBP stand für Besser/Bunter/Preiswerter. Und Gaby war auch sehr zufrieden mit den beiden T-Shirts und den Sommersandalen, die sie sich in der Non-Food-Abteilung ausgesucht hatte.
An der Kasse saß eine junge Frau, die außerordentlich dick war und - auch - innerlich unter ihrer Körperfülle litt. Sie hatte schon viele Diät-Kuren ausprobiert, aber immer ohne Erfolg. Inzwischen war sie entmutigt und versuchte sich einzureden, Übergewicht wäre liebenswert und - Geschmacksache sowieso.
Noch drei Minuten bis ...
Gaby bezahlte. Sie war die letzte Kundin, wie sie plötzlich feststellte und sah zur Uhr.
„Oh, eins durch. Ist schon geschlossen? Ich komme doch hoffentlich noch raus."
Sie lächelte und pustete an den langen Wimpern vorbei gegen die seidigen Ponyfransen auf der Stirn.
„Einsperren werden wir dich jedenfalls nicht", erwiderte die Füllige. „Aber du musst durch den Seiteneingang. Vorn ist jetzt zu." Und ungefragt erklärte sie: „Der Seiteneingang hat nur innen so 'nen automatischen Öffner, der die Tür automatisch öffnet. Automatisch, verstehst du. Von selbst. Von außen funktioniert das nicht. Kein Kunde kann mehr rein. Wir haben Feierabend. Gott sei Dank! Für mich wird das allerdings furchtbar. Ich will nämlich zwei Tage Diät machen. Habe ich eben beschlossen. Weil du so beneidenswert schlank bist. Wie machst du das?"
Noch zwei Minuten bis ...
Gaby lachte. „Eigentlich mache ich gar nichts. Wahrscheinlich hat mich die Natur schlank geplant. Allerdings, ich esse nicht viel. Bin auch nicht vernascht. Außerdem ist mein Freund ein Action-Typ. Ruhe kommt da nur auf, wenn er mich in den Arm nimmt."
„Beneidenswert!", sagte die Dicke zum zweiten Mal. Aber sie sagte es ohne Neid und schummelte auch nicht beim Wechselgeld.
Noch eine Minute bis ...
Gaby ging zum Seiteneingang. Auf ihrer Einkaufstasche stand ,Chic' in dicken Buchstaben. Zu welchen Jeans, überlegte Tims Freundin, passen die Shirts? Wahrscheinlich zu allen. Umso besser.
Noch wenige Sekunden bis...
Gaby näherte sich dem Ausgang, einer zweiflügeligen Glastür. Draußen der leere Parkplatz. Im Hintergrund Häuser. Die Sonne übergoss alles mit grellem Mittagslicht.
Gaby war jetzt noch fünf Schritte von der geschlossenen Tür entfernt. Die verborgene Lichtschranke erkannte: Aha! Ein Kunde will raus. Und automatisch - wie die dicke Kassiererin erklärt hatte - schoben sich die gläsernen Türhälften auseinander. In diesem Moment passierte es.
Victor Kalensky wurde verfolgt. Aber davon merkte er nichts. Er war ein blonder, kräftiger Mittdreißiger und von Natur aus vorsichtig. Heute vergaß er das, hatte es eilig, wollte unbedingt vor Ladenschluss einen Kasten Bier holen: Aus dem Schnäppchen-Supermarkt BBP, der - wie Victor
wusste - um 13 Uhr schloss. Also in dieser Minute. Nein, schon vor zwei Minuten. Doch Victor versuchte einen Trick.
Der Seiteneingang! Gleichsam mit hängender Zunge kam Victor dort an. Und wartete im toten Winkel neben der Tür. Sobald ein Kunde herauskam - und einer würde noch kommen! Schließlich war's ja erst zwei Minuten über die Zeit -, wollte Victor hineinschlüpfen.
Na also! Da war ja auch schon ein hübsches blondes Mädchen mit Boutiquen-Tasche. Und die Tür glitt auf.

Illustration von Seite 172/173.
Illustration von Seite 172/173.

Zweierlei geschah jetzt nahezu gleichzeitig: Hinter Victor tauchte sein Mörder auf: ein Kerl in dunkler Lederjacke, das zweischneidige Kampfmesser in der Hand. Auch der Mörder keuchte, war außer Atem, hatte sein Opfer nämlich lange verfolgt und - beinahe die Lust verloren.
Zweitens: Victor sah den Kerl - vielmehr dessen Spiegelbild in der linken der gläsernen Türhälften, die offenbar etwas langsamer zur Seite fuhr.
Entsetzen! Adrenalin (anpeitschendes Hormon aus den Nebennieren) strömte ins Blut. Victor sprang vorwärts, stolperte, verlor den Halt, prallte fast gegen Gaby und stürzte vor ihr zu Boden.
Tims Freundin schrie auf.
Victor schlug mit dem Kinn auf die Steinfliesen, schlug sich sozusagen selbst k.o. Von dem bedrohlichen Knacken im Kiefer hörte er nichts mehr. Ebenso wenig bekam er mit, was hinter ihm geschah. Der mörderische Typ mit dem Messer zögerte eine Sekunde, vermutlich verunsichert vom Anblick der Zeugin - sei es von ihrer Lieblichkeit oder allein von der Tatsache, dass sie da war und ihn aus riesigen Blauaugen anstarrte.
Die automatische Eingangstür dachte: Aha! Kunde draußen. Und hielt ihre Pflicht für erfüllt. Die gläsernen Hälften glitten zusammen.
In diesem Moment schnellte der Messertyp vor, wollte noch hinein. Ein knapper Meter trennte die Türhälften voneinander. Der Kerl streckte die Messerhand aus, offenbar um mit der Klinge das Schließen zu verhindern.
„Nein!", schrie Gaby. „Zurück! Weg!"
Ohne zu überlegen schleuderte sie ihm ihre Tasche entgegen, was ein Wurf aus der Hüfte war, der linken - und deshalb misslang. Statt den Mann zu treffen, prallte die Chick-Tüte gegen eine der Türhälften. Doch das genügte. Gabys mutige Abwehr brachte den Kerl aus dem Tritt. Wiederum verzögerte er. Dann schlössen sich die Türhälften vor seiner Nase.
Jetzt kam er zur Besinnung, packte den Türgriff, rüttelte, schwang drohend das Messer und starrte Gaby an - mit eiskalter Wut.
Tims Freundin hatte ihre Tasche aufgehoben und wich hinter den Bewusstlosen zurück. Gab die Tür nach? Konnte er sie aufdrücken? Nein, sie hielt stand. Und Gaby befand sich jetzt jenseits der Lichtschranke.
„Hiiiilfe!" Sie schrie in höchsten Tönen. „Hilfe! Hier ist ein Mörder. Am Seiteneingang."
Endlich begriff der Messertyp, dass nun nichts mehr ging, dass er als Killer versagt hatte und zudem in der Tinte saß. Denn dieses Mädchen konnte ihn beschreiben. Eine gefährliche Zeugin!