Band 061: Weißes Gift im Nachtexpress

Band 061: Weißes Gift im Nachtexpress
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Gebundenes Buch · 192 Seiten · 12.2 x 18.8 cm
cbj
Juli 2004
€ 7,50 [D] | € 7,80 [A] | CHF 13,90 (UVP)
978-3-570-15060-3
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Leseprobe

llustration von Seite 25.
llustration von Seite 25.

Für diese Nacht, an einem Freitag Ende Februar, war Frost angesagt. Jetzt, am Abend, orgelte eisiger Wind durch die Straßen. Er traf Tim von vorn, blähte den Blouson auf und machte rote Hände am Rennrad-Lenker. Sauglatt! dachte der TKKG-Häuptling, und er meinte das spiegelnde Eis auf der Fahrbahn.
Auf Feldern und Wiesen vor der Stadt war der Schnee schon geschmolzen. Und auf den vielbefahrenen Straßen, den Hauptverkehrsadern, gab's auch kein Eis mehr. Millionenfach hatten Autoreifen den letzten Knirschkrümel wegradiert.
Aber in Nebenstraßen - und vor allem in den vornehmen, verkehrsberuhigten Gegenden - sah's aus wie auf der Eisbahn: eisig, glatt, spiegelnd. Nur die Gehsteige waren voller ausgestreutem Splitt, um den Boden stumpf zu machen für die Fußgänger. Bekanntlich ist das Streuen Vorschrift für jeden Hauseigentümer, und zwar entlang seines Gartenzauns. Denn schließlich ist nicht jedermann Akrobat oder Seiltänzer; und welche Oma nimmt schon Schlittschuhe mit, wenn sie einkaufen geht.
Eichen-Allee. Na, endlich!
Der Wind stach wie mit Nadeln. Außerdem spürte Tim ein ziemlich dringendes Bedürfnis. Fünf Tassen Tee hatte er vorhin getrunken und seitdem keine Toilette gesehen. Jetzt fuhr er zu den Sauerlichs, den reichen Eltern von Klößchen. Dort war er zu einem Festessen eingeladen, das die Sauerlichs zu Ehren ihres Besuchs gaben. Entfernte Verwandte waren angereist, und zwar zu dritt: die Familie Streiwitz aus Dresden. Nette Leute, wie Klößchen meinte. Deshalb ließen sich die Sauerlichs nicht lumpen. Und Klößchen lud seine Freunde ein: Tim, Gaby und Karl.
Zwiiitsch... glitschte das Vorderrad weg.
Tim mußte abspringen.
Sauglatt, wie gesagt.
Kaum landeten die Turnschuh-Sohlen auf dem Eis - schon saß Tim auf dem Hosenboden.
Niemand hat's gesehen, dachte der TKKG-Häuptling. Ist ja blamabel.
Er wischte die Sitzfläche seiner Festtags-Jeans ab, saß wieder auf und fuhr weiter, vorsichtig diesmal.
Es wurde dunkel. Die schönen Kandelaber-Laternen gössen creme-farbenes Licht aus. Aber das reichte nur für die nächste Umgebung.
Tim sah sein Ziel: das große Anwesen der Sauerlichs, die Super-Villa des Schokoladen-Fabrikanten, die Einfahrt und den Jaguar vor der Garage.
Erleuchtete Fenster, am Haus brannten Lampen, einladend geöffnet das Tor.
Nee, dachte Tim, unmöglich! Ich komme an, habe kaum Zeit für Beglotzung und Händchen schütteln, sondern renne gleich aufs Klo. Das geht nicht.

Illustration von Seite 154/155.
Illustration von Seite 154/155.

Er hielt in Höhe des Nachbargrundstücks - aber auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Keine Laterne, sondern totale Düsternis. Das Einfahrt-Tor von Konsul Zwiberinski-Sachalitzke stand offen. Der Konsul schirmte sich ab mit einer hohen Hecke. Und sein Garten hatte sommers wie winters nie den Pflegezustand, den die Gärtner-Innung loben würde.
Was schadet es da..., überlegte Tim.
An der dunkelsten Stelle lehnte er sein Stahlroß an die Hecke. Schattengleich verschwand er durchs Tor in den Garten, wo die Dunkelheit ihn aufsog.
Stimmen. Gedämpft, ein bißchen ächzend; und zwar aus der Richtung, aus der Tim gekommen war. Ein langes Psssttt! blies der Wind zu ihm her. Von einer Stimme, die nach verrosteten Blechbüchsen klang. Der andere - auch gedämpft - hörte sich bellig und heiser an; jeder Ton schien ein Wehlaut zu sein.
Drüben machten sie halt. Sie wisperten.
Vorsichtig, um nicht auf Knack-Eis zu treten oder steifgefrorenes Laub, schob sich Tim zum Anfang der Hecke.
Seine Adleraugen, längst an die Dunkelheit gewöhnt, sahen fast so deutlich wie ein Infrarot-Zielgerät.
Tim entdeckte die beiden Gestalten vor dem übernächsten Nachbarn der Sauerlichs, nahe der Pforte des schmiedeeisernen Gartenzauns, den innenseitig Nadelsträucher zur Sichtblende ergänzten.
„Siehst du?" hörte Tim einen der beiden zischeln. „Kein Splitt! Kein Kies! Kein Sand! Nichts ist gestreut."
Der andere stöhnte. Er saß - nein, hing - auf dem oberen Rahmenrohr eines windschiefen Tourenrads.
„Du weißt, was du sagst?" vergewisserte sich der mit der Blechbüchsen-Stimme.
Und Tim erkannte ihn.
Das war Herbert, ein Penner. Aber nicht nur Penner. Herbert war auch Gelegenheitsdieb. Und Kampf-Bettler, wie gewisse Typen sich neuerdings nennen. Gemeint ist: Wer ihnen nicht freiwillig spendet, den nötigen sie.
Tim erinnerte sich der fürchterlichen Ohrfeige, mit der er Herbert verjagt hatte. Zer war, kampf-bettelnd, einem alten Muttchen gefährlich nahe an den Pelzkragen gerückt.
„Jaaah!" erwiderte bellig-heiser der andere.
„Hol raus, was drin ist, Otto!"
„Jaaah!"
Otto schien Schmerzen zu haben. Und sein Bein hing schief.
Jetzt lud Herbert ihn ab, kippte ihn sozusagen vom Rad -plumps saß Otto auf dem spiegelnden Eis, jaulte kurz auf und nahm dann eine bequeme Haltung ein, halb in Rückenlage.
Ich ahne, ich ahne..., dachte Tim. Na, mal sehen.
Herbert wendete sein Rad und rannte zurück, soweit die Glätte das zuließ, wobei er die Tretmühle schob.
Tim wartete. Otto wartete. Offenbar zählte der bis hundert -vorausgesetzt, daß es ihn geistig nicht überforderte. Denn als Penner war er mindestens so verkommen wie Herbert - und in diesem Milieu ist ja nicht nur Körperpflege verpönt, sondern ebenso geistige Betätigung.