Band 044: Todesgruß vom Gelben Drachen

Band 044: Todesgruß vom Gelben Drachen
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Gebundenes Buch · 192 Seiten · 12.2 x 18.8 cm
cbj
Juli 2004
€ 7,50 [D] | € 7,80 [A] | CHF 13,90 (UVP)
978-3-570-15043-6
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Leseprobe

llustration von Seite 22.
llustration von Seite 22.

An einem Tag wie heute, dachte Tim - der früher Tarzan genannt wurde -, juckt es den Ganoven in den Fingern: Diebe greifen in fremde Taschen, Einbrecher stemmen Türen auf, Gewalttäter schlagen zu. Das Wetter ist schuld. Nicht umsonst nennt man den November den Monat der Friedhöfe.
Während Tim diese tiefsinnige Betrachtung anstellte, zischten seine Rennrad-Reifen über glitschigen Asphalt. Schwarze Wolken zogen am Himmel. Nebel waberte über den Feldern vor der Stadt. Hier, zwischen den Häusern, kroch er durch die Straßen wie ein riesenhaftes Gespenst im frischgewaschenen Nachthemd. Es war früher Nachmittag, aber alle Laternen brannten, und die Autos fuhren mindestens mit Standlicht. Weiß Gott! - ein Wetter für Ganoven.
Klößchen radelte hinter Tim und war total außer Atem. „Hoffentlich... püh... weicht Gabys Torte... püh... nicht auf!"
„Sie ist bestimmt regendicht und nebelfest."
Tim bremste scharf. Da war schon die Straßenecke, wo Gaby und Karl warten wollten. Und richtig - der Dunst umfloß zwei Gestalten auf Rädern. Beide steckten in Windjacken, und der Reißverschluß war geschlossen bis zum Kinn.
„Heute fallen alle Sonnenuhren aus", lachte Karl. „Man könnte meinen, es ist Mitternacht."
„Kein schönes Geburtstagswetter für Adelheid", sagte Gaby. Sie ließ sich von Tim umärmeln und deutete dann auf den Karton, der auf ihrem Gepäckträger festgeklemmt war.
„Die Torte?" fragte Klößchen.
„Mit einer 80 aus Zuckerguß", nickte Gaby. „Immerhin ist es ihr 80. Geburtstag."
„Dann aber los!" Tim schwang sich aufs Rad. „In dem Alter darf man keine Zeit mehr verlieren."
Die TKKG-Bande fuhr los: ins Viertel Birndorf, das gerade noch zur Großstadt gehört, aber schon ländliche Züge trägt.
Adelheid von Tipperitzki wohnte dort in einer Zwölf-Zimmer-Villa am Waldrand. Es war das Elternhaus der Greisin. Adelheid hatte nie eine andere Adresse gehabt, und sie weigerte sich hartnäckig, die angestammten vier Wände aufzugeben. Geboren als Adelheid von Bergensee hatte sie ihren Mann - den Baron Tipperitzki - bewogen, in die einstige Prachtvilla einzuziehen. Den Baron deckten nun schon lange die pflegeleichten Blumen des Friedhofsgärtners; und die Villa verkam. Mit Adelheids zunehmender Verarmung wandelte sich das Gebäude äußerlich zum Spukhaus. Doch Adelheid hoffte, das Dach werde erst nach ihrem Ableben einstürzen.
„Nicht Essen auf Rädern", sagte Klößchen, „sondern Geburtstagstorte auf Rädern. Warum, Gaby, machst du das eigentlich?"
Sie fuhr neben Tim, weil die Straße in Richtung Birndorf unbelebt war, antwortete über die Schulter nach hinten; und neben ihrem goldenen Pferdeschwanz mischte sich der Atemhauch in den Nebel.
„Erstens, Willi, ist die alte Adelheid die Ehrenvorsitzende unseres Tierschutzvereins, zweitens eine - zwar schrullige -aber menschlich hochwertige Person, drittens kann eine freundliche Geste die dunklen Tage der alten Leute erhellen. Stell dir vor: Jeder Jugendliche kümmert sich wenigstens einmal im Jahr um einen Alt-Mitbürger. Das wäre ein Anfang."
„Den machen wir heute", nickte Klößchen. „Hoffentlich wird das anerkannt. Ich meine: Für eine wohlerzogene Adelsdame gebietet es der Anstand, die Torte gleich anzuschneiden. Bin gespannt, wie sie schmeckt."
„Wehe, du drängst!" warnte Tim.
Karl, dem dauernd die Brillengläser beschlugen, sagte: „Ich würde die blaublütige Oma gern was fragen. Aber vielleicht erschrickt sie dann."
„Was willst du fragen?" erkundigte sich Tim.
„Ob das mit dem Familienschatz stimmt."
Jm Fahren drehte Tim sich um. „Familienschatz?"
„Hab's von meinem Vater. Sein Vater, mein Opa - der ja auch Professor war - kannte den Baron Tipperitzki. Einmal im Monat spielten die beiden Schach gegeneinander. Mein Opa -der Mathe-Professor - ließ ihn manchmal gewinnen. Aus Freude trank der Baron dann immer drei Flaschen Wein. Deshalb ließ mein Opa ihn immer seltener gewinnen. Er wollte nicht, daß Tipperitzki sich die Gesundheit ruiniert. Jedenfalls: Einmal, nach der dritten Flasche Wein, verriet der Baron, daß eine Kassette mit wertvollem Familienschmuck in der Villa versteckt sei. Darunter befinde sich auch ein herzförmig geschliffener Smaragd von neun Karat, der berühmte Bergensee-Anhänger."
„Die Geschichte hat doch einen Bart zum Drauftreten", rief Gaby. „Die ganze Stadt kennt sie."
„Ich höre das zum erstenmal", sagte Tim.
„Du bist auch nicht hiesig, sondern zugewandert als Internatsschüler. Karl meint den Tipperitzki-Schatz. Gesehen hat ihn noch niemand. Einige meinen, es gibt ihn. Und er werde von Adelheid gehütet, die lieber arm bleibt, als den Familien-Schmuck zu Geld zu machen. Andere haben Zweifel, daß er wirklich existiert. Im übrigen, Karl, kannst du dir die Frage sparen. Adelheid antwortet nicht. Manchmal lächelt sie statt dessen. Das kann man so oder so deuten."
Nichts ist unmöglich, dachte Tim. Aber wetten würde ich nicht auf die Klunkern. Daß eine gebrechliche Oma adeligen Nobel-Schmuck in ihrer Altbau-Villa bewacht und sich nicht fürchtet - nein, das kann ich mir nicht vorstellen.
In Birndorf wurde der Nebel noch dichter. Aber Gaby kannte den Weg. Sie hatte die alte Dame schon öfter besucht.
Die Straße führte zum Wald. Große Gärten lagen zu beiden Seiten. Der Boden roch moderig. An den Laubbäumen hingen nur noch wenige Blätter. Ab und zu parkte ein Wagen. Irgendwo krächzte in der Stille ein Rabe. Hier schien die Welt wie in Watte gewickelt.
Gaby streckte den Arm aus.
„Wir sind da."

Illustration von Seite 95.
Illustration von Seite 95.

Alle saßen ab. Tim schob sein Rennrad zum Zaun und lehnte es vorsichtig an. Der Zaun sah nicht aus, als körinte er sich noch lange halten.
Ein riesiger Walnuß-Baum hatte sein Sommerkleid abgeworfen. Auch Rotbuche, Esche, Ahorn und Ulme hatten sich entblättert.
Knöcheltief durch Laub watete die TKKG-Bande zum Haus. Es war mit mehreren Türmchen gekrönt, hatte schmale hohe Fenster und viel Ähnlichkeit mit einer Burg. Hinter keinem Fenster brannte Licht. Es war 14.14 Uhr. Der Tagesanzeiger auf Tims Armbanduhr verriet: ein Montag.
Gaby trug die Tortenschachtel.
Tim drückte auf die Türglocke.
Karl nahm seine Brille ab und polierte die Gläser.
Schnuppernd beugte Klößchen sich über die Tortenschachtel.
„Hau ab! "befahl Gaby.
Klößchen seufzte, zog den Kopf zurück und schob sich ein Stück Schoko zwischen die Zähne.
Tim klingelte zum zweitenmal. Aber niemand kam.
„Seltsam!" sagte Gaby. „Sie geht überhaupt nicht mehr aus, weil sie so schlecht auf den Beinen ist. Als ich vorhin anrief, sagte sie, daß sie sich freut. Sie erwarte uns, sagte sie."
Ganoven-Wetter! dachte Tim. Der Nebel verhüllt alles. Und hier ist es total einsam. Hoffentlich...
„Ich geh mal ums Haus", meinte er. „Diese Stille gefällt mir nicht."
„Achtzigjährige werden leicht ohnmächtig", nickte Klößchen, „und liegen dann tagelang rum."
„Blödsinn!" fauchte Gaby ihn an. „Das gilt nur für Kranke."
„Bin gleich wieder da", sagte Tim.
Er trabte zur Hausecke rechts. Seine Baseball-Stiefel raschelten im Laub. Ein feuchtes Blatt löste sich aus dem Nußbaum, segelte herab und landete auf Tims rechtem Jeans-Schenkel. Dort klebte es. Er achtete nicht darauf, sondern rannte um die Ecke nach hinten.
Die Rückfront wies zum Wald. Auf der Terrasse dösten alte Gartenmöbel ihrer Verschrottung entgegen. Der Schreiner hatte die zwei-flügelige Terrassentür in 32 Felder aufgeteilt -was den Vorteil hat, daß bei Glasbruch nur kleine Scheiben ersetzt werden müssen.
Die Terrassentür stand offen.
Tim verharrte auf der Schwelle, spähte in den hohen Raum und räusperte sich.
„Frau von Tipperitzki?"
Ein hoher Ohrenbackensessel drehte ihm die Rückseite zu.
Schlohweißes Haar überragte fingerbreit den Rand der Lehne.
Tim räusperte sich wie ein auftauchender Pottwal.
Eine Amsel, die bei den Gartenmöbeln herumhüpfte, erschrak und flog auf. Aber die Greisin rührte sich nicht.
Schläft wohl? dachte Tim.
„Wir sind's", brüllte er. „Gaby Glockner und ihre Freunde. Guten Tag! Hallo!"
Nichts!
Er trat ein. Der klamme Nebel schien plötzlich unter seine Windjacke zu kriechen. Denn jetzt sah Tim, was hier los war. Schränke und Kommoden schoben sich in sein Blickfeld. Jemand hatte die Fächer aufgerissen - und den Inhalt auf dem Boden verstreut.
Sie schläft nicht - sie ist... O Gott!
Er lief um den Sessel herum, stand vor der alten Dame und -hielt den Atem an. Entsetzlich!
Adelheid von Tipperitzki saß - nein, lag in dem wuchtigen Sessel. Ohne die stützenden Armlehnen wäre sie zu Boden gesunken. Ein dünner Blutfaden sickerte aus dem weißen Haar, floß über die rechte Schläfe und erreichte die Wange. Die alte Frau hatte die Augen geschlossen. Ihr Gesicht war bleich. Sie schien nicht zu atmen.
Tim griff nach ihrer Hand und fühlte den Puls. Das Herz schlug langsam und schwach. Jetzt rutschte der Kopf zur Seite. Adelheid lag in tiefer Bewußtlosigkeit.
Tim ließ das Handgelenk los, sauste hinaus und zu seinen Freunden.
Gaby begriff, daß was Fürchterliches passiert war, bevor er den Mund aufmachte.
„Überfall! Adelheid ist ohnmächtig, blutet noch, wurde offenbar von hinten auf den Kopf geschlagen, als sie im Sessel saß. Das war eben. Wahrscheinlich hat unser Klingeln den Täter vertrieben. Er ist durch die Terrassentür raus. Eine Spur führt durchs Gras zum Wald. Karl, du rufst den Notarzt an und die Kripo. Gaby, Willi - ihr kümmert euch um die Oma. Ein Glück, daß wir unser Erste-Hilfe-Know-how {Know-how = gewußt wie) immer wieder auffrischen. Ich sehe im Wald nach. Vielleicht erwische ich den Typ."
Seine Freunde waren ihm gefolgt, verstört und sprachlos. Tim wies auf die Terrassentür. Dann wandte er sich zum Wald. Mit langen Sätzen überquerte er die Wiese, die zum Garten gehörte. In diesem Sommer hatte niemand das Gras gemäht. Es welkte jetzt, stand aber immer noch hoch; die Spur war deutlich. Der Täter hatte sie in die Halme getreten und den Waldrand - eine Fichtenparade - erreicht, ohne auf ein Hindernis zu stoßen. Sicherlich, es gab auch einen rückseitigen Zaun. Aber den hatte die Fäulnis längst umgeworfen.
Nebel, Nebel! Die Fichtenzweige winkten mit Bett-Tüchern.
Er tauchte unter die Bäume, stolperte über eine Wurzel, trat auf Moos und erinnerte sich, daß weiter hinten ein Weg verlief. Der teilte den Birndorfer Forst, der allerdings nicht groß war, sondern nach einem knappen Kilometer von Feldern abgelöst wurde. Zum Weg? Zum Weg!
In diese Richtung rannte Tim. Sie war so gut wie jede andere.
Und in diesem Fall die beste.
Denn schon nach wenigen Metern sah Tim die Gestalt.
Ein Mann stand hinter dem bemoosten Stamm einer Eiche.