An einem Tag wie heute, dachte Tim - der früher Tarzan genannt wurde -, juckt es den Ganoven in den Fingern: Diebe greifen in fremde Taschen, Einbrecher stemmen Türen auf, Gewalttäter schlagen zu. Das Wetter ist schuld. Nicht umsonst nennt man den November den Monat der Friedhöfe.
Während Tim diese tiefsinnige Betrachtung anstellte, zischten seine Rennrad-Reifen über glitschigen Asphalt. Schwarze Wolken zogen am Himmel. Nebel waberte über den Feldern vor der Stadt. Hier, zwischen den Häusern, kroch er durch die Straßen wie ein riesenhaftes Gespenst im frischgewaschenen Nachthemd. Es war früher Nachmittag, aber alle Laternen brannten, und die Autos fuhren mindestens mit Standlicht. Weiß Gott! - ein Wetter für Ganoven.
Klößchen radelte hinter Tim und war total außer Atem. „Hoffentlich... püh... weicht Gabys Torte... püh... nicht auf!"
„Sie ist bestimmt regendicht und nebelfest."
Tim bremste scharf. Da war schon die Straßenecke, wo Gaby und Karl warten wollten. Und richtig - der Dunst umfloß zwei Gestalten auf Rädern. Beide steckten in Windjacken, und der Reißverschluß war geschlossen bis zum Kinn.
„Heute fallen alle Sonnenuhren aus", lachte Karl. „Man könnte meinen, es ist Mitternacht."
„Kein schönes Geburtstagswetter für Adelheid", sagte Gaby. Sie ließ sich von Tim umärmeln und deutete dann auf den Karton, der auf ihrem Gepäckträger festgeklemmt war.
„Die Torte?" fragte Klößchen.
„Mit einer 80 aus Zuckerguß", nickte Gaby. „Immerhin ist es ihr 80. Geburtstag."
„Dann aber los!" Tim schwang sich aufs Rad. „In dem Alter darf man keine Zeit mehr verlieren."
Die TKKG-Bande fuhr los: ins Viertel Birndorf, das gerade noch zur Großstadt gehört, aber schon ländliche Züge trägt.
Adelheid von Tipperitzki wohnte dort in einer Zwölf-Zimmer-Villa am Waldrand. Es war das Elternhaus der Greisin. Adelheid hatte nie eine andere Adresse gehabt, und sie weigerte sich hartnäckig, die angestammten vier Wände aufzugeben. Geboren als Adelheid von Bergensee hatte sie ihren Mann - den Baron Tipperitzki - bewogen, in die einstige Prachtvilla einzuziehen. Den Baron deckten nun schon lange die pflegeleichten Blumen des Friedhofsgärtners; und die Villa verkam. Mit Adelheids zunehmender Verarmung wandelte sich das Gebäude äußerlich zum Spukhaus. Doch Adelheid hoffte, das Dach werde erst nach ihrem Ableben einstürzen.
„Nicht Essen auf Rädern", sagte Klößchen, „sondern Geburtstagstorte auf Rädern. Warum, Gaby, machst du das eigentlich?"
Sie fuhr neben Tim, weil die Straße in Richtung Birndorf unbelebt war, antwortete über die Schulter nach hinten; und neben ihrem goldenen Pferdeschwanz mischte sich der Atemhauch in den Nebel.
„Erstens, Willi, ist die alte Adelheid die Ehrenvorsitzende unseres Tierschutzvereins, zweitens eine - zwar schrullige -aber menschlich hochwertige Person, drittens kann eine freundliche Geste die dunklen Tage der alten Leute erhellen. Stell dir vor: Jeder Jugendliche kümmert sich wenigstens einmal im Jahr um einen Alt-Mitbürger. Das wäre ein Anfang."
„Den machen wir heute", nickte Klößchen. „Hoffentlich wird das anerkannt. Ich meine: Für eine wohlerzogene Adelsdame gebietet es der Anstand, die Torte gleich anzuschneiden. Bin gespannt, wie sie schmeckt."
„Wehe, du drängst!" warnte Tim.
Karl, dem dauernd die Brillengläser beschlugen, sagte: „Ich würde die blaublütige Oma gern was fragen. Aber vielleicht erschrickt sie dann."
„Was willst du fragen?" erkundigte sich Tim.
„Ob das mit dem Familienschatz stimmt."
Jm Fahren drehte Tim sich um. „Familienschatz?"
„Hab's von meinem Vater. Sein Vater, mein Opa - der ja auch Professor war - kannte den Baron Tipperitzki. Einmal im Monat spielten die beiden Schach gegeneinander. Mein Opa -der Mathe-Professor - ließ ihn manchmal gewinnen. Aus Freude trank der Baron dann immer drei Flaschen Wein. Deshalb ließ mein Opa ihn immer seltener gewinnen. Er wollte nicht, daß Tipperitzki sich die Gesundheit ruiniert. Jedenfalls: Einmal, nach der dritten Flasche Wein, verriet der Baron, daß eine Kassette mit wertvollem Familienschmuck in der Villa versteckt sei. Darunter befinde sich auch ein herzförmig geschliffener Smaragd von neun Karat, der berühmte Bergensee-Anhänger."
„Die Geschichte hat doch einen Bart zum Drauftreten", rief Gaby. „Die ganze Stadt kennt sie."
„Ich höre das zum erstenmal", sagte Tim.
„Du bist auch nicht hiesig, sondern zugewandert als Internatsschüler. Karl meint den Tipperitzki-Schatz. Gesehen hat ihn noch niemand. Einige meinen, es gibt ihn. Und er werde von Adelheid gehütet, die lieber arm bleibt, als den Familien-Schmuck zu Geld zu machen. Andere haben Zweifel, daß er wirklich existiert. Im übrigen, Karl, kannst du dir die Frage sparen. Adelheid antwortet nicht. Manchmal lächelt sie statt dessen. Das kann man so oder so deuten."
Nichts ist unmöglich, dachte Tim. Aber wetten würde ich nicht auf die Klunkern. Daß eine gebrechliche Oma adeligen Nobel-Schmuck in ihrer Altbau-Villa bewacht und sich nicht fürchtet - nein, das kann ich mir nicht vorstellen.
In Birndorf wurde der Nebel noch dichter. Aber Gaby kannte den Weg. Sie hatte die alte Dame schon öfter besucht.
Die Straße führte zum Wald. Große Gärten lagen zu beiden Seiten. Der Boden roch moderig. An den Laubbäumen hingen nur noch wenige Blätter. Ab und zu parkte ein Wagen. Irgendwo krächzte in der Stille ein Rabe. Hier schien die Welt wie in Watte gewickelt.
Gaby streckte den Arm aus.
„Wir sind da."