Besorgt sah Tim zur Uhr. „Gleich klingelt's, und den Knackpunkt hast du noch immer nicht rausgelassen. Von wegen Kotzbrocken und Hilferuf."
Gaby nickte. „Ich mache es kurz. Zum Kotzbrocken: Jörg ist ekelhaft, faul und hinterhältig. Er wurde im Januar 18. Bei der Scheidung vor zwei Jahren hat man ihn Tante Isa zugesprochen. Weil sie in geordneten Verhältnissen lebt, hingegen Valentin Köschen in eine Trinkerheilanstalt eingewiesen wurde. Aber genutzt hat das offenbar nichts. Jörg wohnt noch immer bei Tante Isa. Sie fühlt sich verantwortlich für dieses Ungeheuer - und wie ich sie kenne, ist sie riesig nett zu ihm. Er dankt es ihr, indem er keinen Finger krumm macht, sondern nur rumgammelt. So ein Typ ist das also, so ein mieser."
„Und", fragte Tim, „der Hilferuf?"
„Bad Neuzeil erlebt zur Zeit einen Super-Boom (Aufschwung) . Weil dort eine Heilquelle entdeckt wurde, die so ungefähr alles heilt. Von Fettsucht", sie sah Klößchen an, „bis zum Warzenbefall."
„Aber das untermauert die Daseinsgrundlage für ein Hotel", sagte Tim. „Du sprachst vom Unterhöhlen."
„Leider wird unterhöhlt, nicht untermauert. Denn der Kuchen reicht nicht für alle. Was Tante Isa am Telefon sagte, ist dies: Die berühmte amerikanische Hotelkette Weekend (Wochenende) hat einen riesigen Gästeschuppen in Bad Neuzell gebaut: ein Super-Hotel mit allem Drum und Dran. Weil die Weekender natürlich die Nase im Wind haben und checken, daß dort was zu holen ist. Das Hotel heißt Weekend und fängt alle Gäste für sich ein. Für die anderen, viel kleineren Hotels, bleiben keine übrig. Jedenfalls nicht genug. Das meinte ich mit Kuchen. Aber das ist noch nicht das Schlimmste."
„Noch schlimmer?" Tim hob die Brauen.
„Viel schlimmer", fuhr sie fort. „Das Weekend-Hotel zieht nämlich alle Arbeitskräfte an sich. In der Hotelbranche sind gute Leute knapp. Weil der Arbeitstag so lang ist, gibt's die nicht so haufenweise wie Lehrer, Zahnärzte oder Maurer. Außerdem müssen die Hotelfachkräfte immer gerade dann ranklotzen, wenn andere Leute frei haben und feiern: abends, an Wochenenden, sonntags. Die Weekend-Hotelkette hat Geld,
kann also mehr bezahlen als die einheimischen Hoteliers. So kommt es, daß alle beim Weekend jobben: Kellner, Zimmermädchen, Portiers, Köche, Hausdiener, Pagen. Tante Isas ERLENHOF - so heißt ihr Hotel - leidet unter Personalmangel. Deshalb ruft sie - sozusagen - um Hilfe."
„Eine Küche ohne Köche", meinte Klößchen, „stelle ich mir schrecklich vor."
„Es hat längst geläutet", fiel ihm Tim ins Wort. „Wir müssen rein."
Alle wandten sich dem Hauptportal zu.
„Jedenfalls", sagte Gaby, „lasse ich Tante Isa nicht im Stich. Trotz Stiefsohn Jörg."
„Was meinst du damit?" forschte Tim.
„Ich habe mich entschlossen, ihr zu helfen. Übermorgen fahre ich nach Bad Neuzell. Für mindestens eine Woche wohne ich im Erlenhof. Aber nicht als Gast, sondern als Zimmermädchen, Büro- und Küchenhilfe. Was so anfällt. Wenn's sein muß, schleppe ich auch Koffer."
„Ouuuh!" jaulte Karl. „Da kriegt deine Tante aber Ärger. Nach dem Jugendschutzgesetz ist es streng verboten, eine 13jährige Arbeitskraft zu beschäftigen."
„Weiß ich", schmetterte Gaby ihn ab. „Wer sagt denn was von Arbeitskraft mit Gehalt und Krankenversicherung? Ich bin die liebe Nichte, weile besuchsweise dort und gehe ein bißchen zur Hand, wie das in jeder Familie üblich ist. Klar?"
„Du könntest dir das Kreuz ausrenken", gab Klößchen zu bedenken. „Manche Koffer sind nämlich zentnerschwer."
„Wenn du mit deinem Schokoladen-Vorrat reist - dann bestimmt. Tante Isas Gäste kommen mit leichterem Gepäck."
„Also keine Schoko-Fans, sondern langweilige Typen."
„Hach, ist er wieder putzig heute", sagte Gaby zu den andern.
Tim lächelte mit der linken Mundseite. Aber nicht über seine Freunde - vielmehr war sein Lächeln nach innen gerichtet.
Ein Gedanke begann, sich gedankenschnell zu formen.