Nach dem Mittagessen verebbte der Lärm im Haupthaus der
Internatsschule. Die meisten Schüler fuhren in die Stadt; die
sportlichen entschieden sich für Schwimmen oder Fußball,
die trägen lagen in ihren Buden auf den Betten.
Tarzan wollte einen Brief an seine Mutter schreiben und
lief die vier Treppen zum ADLERNEST hinauf. Dort, in der
kleinsten Bude vom Obergeschoss, saß Klößchen auf dem
Fensterbrett. 50 Meter Nylonseil lagen aufgerollt zu seinen
Füßen. Ein Stück hielt er zwischen den Händen. Er zerrte mit
Leibeskräften daran – offenbar, um die Haltbarkeit zu prüfen.
»Ist dir ein Schnürsenkel gerissen?«, fragte Tarzan. »Den
kannst du von mir haben.«
Klößchen schüttelte den Kopf. Antworten konnte er nicht.
Sein Mund war voll gestopft. Ein Stück Schokolade sah noch
hervor.
Nachdem er gekaut und geschluckt hatte, flüsterte er: »Pst!
Ich will doch die Strickleiter reparieren.«
Tarzan bückte sich und sah unter beide Betten.
»Kannst laut sprechen. Bis jetzt hat sich kein Pauker eingeschlichen.
Es sei denn, es sitzt einer im Schrank.«
»Ach, du! Dir ist es wohl egal, ob ich abstürze wie ein Alpinist
aus der Eiger-Nordwand.«
»Aber nein!«, lachte Tarzan. »Es wäre in der Tat bestürzend,
wenn du abstürzend einen Bergunfall erleidest –
zwischen Schulhof und zweiter Etage am Seitentrakt des
Hauptgebäudes. Ist unser Fluchtinstrument denn wirklich
kaputt?«
»Ganz dünn gescheuert zwischen Sprosse sieben und
acht«, nickte Klößchen. »Bei unserem nächsten nächtlichen
Ausflug hätte das Unglück eine Chance.«
»Na, dann werden wir die deutsche Wertarbeit flicken.«
»Meine Strickleiter«, sagte Klößchen, »wurde im Ausland
hergestellt. Aber Fehler bei der Fertigung passieren hier wie
dort.«
Die Strickleiter war ein Geheimnis der beiden Freunde
und sonst nur noch den anderen Mitgliedern der TKKGBande
bekannt: Gaby und Karl. Die Hausordnung des Internats
bestimmte: Nach 21 Uhr dürfen Schüler unter 14 Jahren
ihren Schlaftrakt im Hauptgebäude nur im Notfall verlassen.
Unter Notfall verstand man Feuer, Erdbeben oder Einsturzgefahr.
Um die Schüler nicht zu überfordern, wurde der Versuchung
zum nächtlichen Ausflug ein Riegel vorgeschoben –
buchstäblich. Mit dem Glockenschlag 21 Uhr sperrte Hausmeister
Mandl alle Türen im Erdgeschoss ab. An die Fenster
kam ohnehin niemand ran – sie gehörten zu den Diensträumen
der Lehrer oder zu Klassenzimmern.
Ab 21 Uhr gefangen, eingekerkert? Tarzan und Klößchen
fanden das empörend, hatten einen Fluchtweg durchs Flurfenster
des zweiten Stocks erkundet und sich technisch ausgerüstet.
Für den sportlichen Tarzan genügte ein Seil, um hinauf-
und hinunterzuklettern. Aber Klößchen, der dicke
Gemütsbrocken, benötigte eine Strickleiter.
Versteckt war sie auf dem Speicher, dort auf einem Balken
in hinterster Ecke.
»Reparieren wir’s hier?«, fragte Klößchen.
Tarzan nickte. »Die ganze Etage ist ausgeflogen.Und wenn
ein Pauker kommt – das hören wir rechtzeitig.«
»Dann will ich sie mal holen.« Klößchen nahm seinen blau
gestreiften Bademantel vom Haken. »Ist besser, dass ich sie
einwickele – falls mir jemand begegnet.«
Eine Minute später hörte Tarzan, wie sein dicker Freund
die Holzstufen der Speichertreppe herunterpolterte.
Die Tür flog auf. Klößchen stürmte herein, den Bademantel
zur Hälfte um den Hals geschlungen, von der anderen
Hälfte wie mit einer Toga (alt-römisches Gewand) bedeckt.
Sein tomatenrotes Gesicht bebte vor Zorn. In der Hand
schwenkte er einen zerknitterten Zettel.
»Und wo hast du die Strickleiter?«, fragte Tarzan.
»Sie... sie... ist weg! Verschwunden! Gestohlen! Entwendet!
Nur das lag auf dem Balken.«
Wieder schwenkte er den Zettel, als sollte ein Papierflugzeug
absegeln.